Lost Places - Sperrzone von Tschernobyl

Pripjat, Sperrzone von Tschernobyl und andere verlassene Orte

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Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima. Erster Tag

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima. Erster TagTokio, 22. Dezember 2011, 8 Uhr morgens. Zusammen mit dem ZDF Filmteam packen wir unser Equipment in einen Minivan und fahren zur Präfektur Fukushima. Seit März 2011 ist sie auf die gleiche Art und Weise wie unser Tschernobyl im April 1986 zur bekanntesten Präfektur geworden.

Im Seitenfenster unseres Toyota HiAce zieht unbekannte und ungewöhnliche Landschaft an mir vorbei. Auf dem Weg in „unsere“ Zone, die Sperrzone von Tschernobyl, gibt es nichts was ich nicht kenne – jede Kurve, jedes Städtchen oder Siedlung ist mir bestens bekannt. Hier ist alles anders: Die Landschaft ist von Bergen geprägt, auf den Straßenschildern stehen die Namen der Ortschaften in einer sehr schönen, doch mir absolut unbekannten Schrift geschrieben. Die Autos fahren auf den anderen Straßenseiten und selbst die Bäume sind trotz Ende Dezember immer noch grün.

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima. Erster Tag Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima. Erster Tag Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima. Erster Tag

Als Folge der Atomkatastrophe von Fukushima – Daiichi im März 2011 hat die japanische Regierung die Bevölkerung der 20 km Zone evakuiert und die Zufahrten gesperrt, die reale Zone erstreckt sich jedoch hunderte Kilometer weiter über die offizielle „zwanziger“. Der größte Teil von Fukushima und den teilweise angrenzenden Präfekturen wie Miyagi, Ibaraki, Tochigi sind radioaktiv belastet. Mitte April gleichen Jahres wurde die Sperrzone um eine weitere „Zone der empfehlenswerten Umsiedlung“ erweitert. Diese erstreckt sich weitere 50 km in nord-westlicher Richtung. So leben in radioaktiv belasteten Städten und Dörfern trotz der Bitten und Empfehlungen der Regierung weiterhin Menschen. Einige gaben alles auf und zogen weg, andere schickten ihre Kinder zu ihren Verwandten in saubere Gegenden. Insgesamt gesehen, führen die Leute hier ein normales Leben, oder versuchen es zumindest.

Es gibt auch Gegenden die nicht zu der nord-westlichen Spur gehören, für die die Empfehlungen der Regierung nicht gelten. Jedoch ist

die Situation dort gemäß der Karte der radioaktiven Verschmutzung nicht viel besser wie in der „zwanziger“ oder der nord–westlichen „fünfziger“ Zone. Ein solcher Ort ist die Stadt Nihonmatsu.

Als wir ungefähr auf der halben Strecke bis zum Zielort sind, beginne ich öfters auf das Display meines Armbandspektrometers zu schauen. Die Werte der Hintergrundstrahlung klettern langsam aber sicher von 0,25 –> 0,3 –> 0,5 uSv/h hoch. Der Isotopenerkennungsmodus bestätigt meine Erwartung: 134Cs, 137Cs. Meine Bekanntschaft mit dem „Fukushima – Spektrum“ hat nun stattgefunden.

Ein kurzer Halt an einem Straßencafe. Ich nutze die Gelegenheit und laufe zum Straßenrand um Messungen durchzuführen. Wenn es auf der Straße oder sogar noch im Auto 0,5 uSv/h angezeigt hat, müsste es am Straßenrand nach der „Tschernobyl-Regel“ das Doppelte sein. Das Resultat enttäuscht und erschüttert mein bisheriges Verständnis – der Straßenrand ist sauber: 0,15 uSv/h. Während die ganze Gruppe am Auto Kaffee trinkt streife ich nachdenklich mit den Dosimetern entlang der Straße herum. Irgendwas stimmt hier nicht, es kann einfach nicht sein. Allein die Straße ist also belastet – die Fahrzeuge verteilten den radioaktiven Staub an den Reifen hunderte Kilometer weit.

Nihonmatsu (二本松市)

Ein paar Wörter zu der Stadt: Nihonmatsu liegt auf der Honshū Insel, Präfektur Fukushima in der Tōhoku Region. Die Bevölkerung beträgt ca. 60000 Einwohner. Von dem havarierten AKW Fukushima sind bis nach Nihonmatsu ca. 60 km Luftlinie.

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushimaа

Für heute ist ein Treffen mit dem hiesigen Bauer Masami Yoschizawa eingeplant, der nun seit dem Beginn der Katastrophe einen schwierigen Kampf um die Existenz seiner 300 köpfigen Viehherde führt. Die Herde blieb in der 20 Kilometer Sperrzone nicht weit der Siedlung Namie (浪江町). Die Empfehlungen der Regierung die Tiere einschläfern zu lassen, ignorierten Masami Yoshizawa (吉沢 正己) und Atsushi Murata (村田 淳). Nun fahren die Beiden seit über 9 Monaten in die verbotene Zone um die Kühe zu füttern.

Unterwegs halten wir in der Stadt Motomiya (本宮市), die an Nihonmatsu grenzt.

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima Wir kaufen in einem örtlichen Kleinmarkt ein paar Schachteln Sushi und essen zu Mittag direkt auf dem Parkplatz davor. Ich werde das Gefühl der Scheinrealität einfach nicht los. Ich erinnere mich an den Satz: „In der 10 km Sperrzone von Tschernobyl ist das Essen, Trinken und Rauchen streng verboten...“ Aber wir sind doch nicht in der Sperrzone von Tschernobyl, und bis zum Fukushima - Daiichi AKW sind ca. 60 km... Es fahren Autos auf den Straßen, die Leute bringen wie gewohnt ihre Einkäufe nach Hause, die Schüler gehen heim und während dessen zeigt mein Dosimeter 0,6 uSv/h. Wie ich bereits oben erwähnte, wurde diese Gegend nicht in die Zone der empfehlenswerten Umsiedlung mit eingeschlossen.

Nachmittags fahren wir zu der Farm von Masami Yoshizawa. Unterwegs halten wir an einem Reisfeld. Die Gamma - Hintergrundstrahlung beträgt hier 1 – 1,5 uSv/h.

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima

Hashimoto, ein amerikanischer Journalist, unser Kontaktmann und Dolmetscher, schaut besorgt zu, während ich mit den Geräten hantiere.
— Wie viel zeigt es dort an? Ist es viel?
— Es kommt darauf an. Für einen kurzzeitigen Aufenthalt nicht, aber hier leben und vor allem Landwirtschaft betreiben sollte man eindeutig nicht. 
Hashimoto ist sichtlich enttäuscht:
— Aber wie sollen sie den leben? Der Reisanbau ist der wichtigste Landwirtschaftszweig der gesamten Region! Wenn es auf dem Boden soviel ist, wie viel wird es im Reis sein?
— Man müsste den Reis mitnehmen und im Labor Messungen durchführen. Ich kann nur sagen, dass dieses Feld radioaktiv belastet ist. Die Hintergrundstrahlung ist gegenüber der normalen um das fünffache erhöht. Es ist nicht möglich hier sauberen Reis anzubauen. Entweder ihr entfernt die obere Erdschicht oder ihr könnt 100 Jahre warten bis 137Cs zu ungefährlichen Konzentrationen zerfällt.

Unser Treffen mit Masami Yoshizawa fand nicht statt... Wir schauten uns auf dem Gelände der Farm um, unterhielten uns mit den Arbeitern. Sie erzählten uns einige Details über den Kampf von Farmer Yoshizawa, seine Herde zu halten, der langsam zum Kampf um das Überleben aller in der Sperrzone gelassenen Tiere geworden ist. Weil die Regierung nur eine rein symbolische Entschädigung verspricht, erwarten die Farmer bestenfalls riesige finanzielle Verluste, ansonsten droht hier den meisten die Pleite. Manche Farmer geben nicht auf und versuchen sich um jeden Preis über Wasser zu halten. Masami Yoshizawa hatte die Idee, eine experimentellen Forschungsfarm zu gründen. Mir kam sofort unsere Forschungsfarm in Nowoschypelytschi in den Sinn... Bei uns hielten sie jedoch nur um die zehn Tiere, hier aber - gibt es ca. 1000. So eine riesige Forschungsfarm kann ich mir kaum vorstellen. Außerdem ist alles, was es auf diesem Gebiet zu erforschen gibt, bereits längst erforscht.

Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima Nihonmatsu (二本松市). Präfektur Fukushima

Die Hintergrundstrahlung auf der Farm liegt etwa zwischen 0,8 und 1 uSv/h. Stellenweise bis 2,5 uSv/h. Nein, es ist nicht „die Farm in der Zone“, wo der Bauer Yoshizawa und die Aktivisten der Naturschutzorganisationen trotz des strengen Verbotes der Regierung hinein gehen, um die verwilderten Kühe zu füttern. Nach den örtlichen Standards hatte die Farm Glück gehabt und ist so gut wie gar nicht radioaktiv belastet...

Unsere Kontaktmänner Kenzo Hashimoto und Makoto Hori versuchen vergeblich Masami Yoshizawa telefonisch zu erreichen. Letzten Endes haben wir nicht verstanden was mit Yoshizawa passiert war, ob er entweder nicht konnte oder nicht wollte sich mit uns zu treffen. Es ist spät abends, für heute sind die Aufnahmen beendet. Alex und Steffi laden das Equipment in unseren Minivan. Schluss für heute. Wir fahren in den Westen der Präfektur ins Hatoriko Highland Regina Forest Resort, wo morgen, am 23.Dezember, ein Treffen mit den aus der 20 km Zone rund um das AKW Fukushima-Daiichi evakuierten Kinder stattfindet.

 

Für die Organisation der Reise, die Hilfe und Begleitung möchte ich mich bei folgenden Personen recht herzlich bedanken: Alexander Detig, Tatyana Ivanova-Detig, Stefanie Jaehde (Sound & Vision GmbH), ZDF, Herr Kanji Takahara 高原 寛司 (TV Tokyo), Herr Naoki Ban (Gazeta USA). Ein besonderer Dank geht an unsere Begleiter Herrn Kenzo Hashimoto 橋本 健三 (Gazeta USA) und Herrn Makoto Hori 堀 信 (Tokyo Sound Production, Inc.).


 

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Die Sperrzone von Tschornobyl

Von Yevgen KRANZ Goncharenko

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